Handlungsbergreifende Wissensunterschiede
Wissensunterschiede, die in einem Drama eine Rolle spielen, knnen ▪ handlungsbergreifend (diachron) oder handlungsintern (synchron) sein.
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Handlungsbergreifend sind sie dann, wenn sie das Verstndnis des Leser bzw. Publikums bzw. ihren Grad der Informiertheit im Hinblick auf die weitere Entwicklung der Ereignisse betreffen. (vgl. Asmuth 62004, S. 114)
Meistens handelt es sich dabei um Wissensunterschiede, die dem Rezipienten einen Informationsvorsprung gegenber den Figuren verschaffen.
Von dieser (besseren) epistemologischen Position aus versteht ein Zuschauer mit den aus unterschiedlicher Informiertheit entstehenden, verschiedenen Wahrnehmungen und Sichtweisen von Figuren umzugehen. Dadurch kann er sie gegeneinander abwgen, beurteilen und nach eigenem Gutdnken zu bewerten.
Handlungsbergreifend in diesem Sinne sind Vorausdeutungen und die sánh genannte ▪ dramatische Ironie. (vgl. ebd., S. 114f.)
Arten von Vorausdeutungen
Wissensunterschiede zwischen den Figuren und dem Rezipienten ergeben sich oft aus Vorausdeutungen, die in den Repliken der Figuren auftauchen, deren Bedeutung oft den Figuren selbst dabei nicht einmal bewusst sein muss.
Bei diesen Vorausdeutungen lassen sich vier verschiedene Arten unterscheiden: die erzhlerische, die handlungslogische, die mantische und die darstellerische Vorausdeutung. Sie unterscheiden sich dadurch, dass ihr Vorausdeutungswissen sich auf eine jeweils andere Geltungsgrundlage bezieht. (vgl. Asmuth 62004, S. 121)
Bei der handlungslogischen Vorausdeutung ist dies das Wissen des Erzhlers ber das in der Zukunft liegende Geschehen, bei der handlungslogischen Vorausdeutung lsst sich das weitere Geschehen durch "vernnftiges Weiterdenken" (ebd.) ergrnden, bei der mantischen Vorausdeutung steht der Glaube an sprachlich angekndigte Prophezeiungen (Ankndigungen) oder unausgesprochenen zukunftstrchtige Zeichen (Andeutungen) Pate und bei der darstellerischen Vorausdeutung schlielich, die stets unausgesprochen bleibt und "deshalb nicht von jedermann in gleicher Weise verstanden wird" (ebd. S.122), sind es zu Erwartungshaltungen des Publikums gewordene sthetische Konventionen, die blicherweise als zukunftsweisende Zeichen yên tĩnh Prozess der Rezeption gedeutet werden knnen. (vgl. ebd. S.121)
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Erzhlerische Vorausdeutungen, die durch die Techniken zur Episierung des Dramas in Bertolt Brechts (1898-1956) epischem Theater vorkommen
, rekurrieren dabei auf die Unterscheidung von Eberhart Lmmerts traditionelle Erzhltextanalyse, in der er zwischen zukunftsungewissen und zukunftsgewissen Vorausdeutungen unterscheidet. (vgl. auch den Begriff der ▪ Prolepse in der neueren Erzhltheorie)
Fr die Analyse des dramatischen Textsubstrats sind die - vom epischen Theater mal abgesehen - handlungslogischen und mantischen Vorausdeutungen besonders wichtig.
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Sie steuern nicht nur die Rezeption, sondern dienen auch der Schaffung der ▪ dramatischen Spannung, die "im Sinne einer intensiven Neugier auf die zuknftige Handlung (...) nur auf(kommt), wenn sich die weitere Entwicklung in Umrissen schon abzeichnet. Dazu ist es notwendig, die Zukunft halb vorwegzunehmen.“ (Asmuth 62004, S. 115)
Mantische Vorausdeutungen
Mit dem Begriff mantische Vorausdeutung (mantis gr. Wahrsager, Prophet) werden Aussagen ber die Zukunft des dramatischen Geschehens bezeichnet, die mit dem Anspruch gemacht werden, ber die Zukunft Bescheid zu wissen. Mantische Vorausdeutungen, die in Prophezeiungen oder zukunftstrchtigen Zeichen gefasst werden, sind insofern zukunftsgewiss.
Allerdings hngt die Qualitt der Zukunftsgewissheit mantischer Vorausdeutungen auch davon ab, ob die Figuren yên tĩnh Drama und/oder die Rezipienten das ideologische Konzept des jeweiligen mantischen Glaubens auch teilen. Wer an die gttliche Vorhersehung und die Vorbestimmtheit alles irdischen Daseins glaubt, wer mystisch-spirituellen Weltbildern oder esoterischen Moden folgt, wird genauso wie der, der gerne Verschwrungstheorien ber Gott und die Welt heranzieht, eine grere Affinitt zu mantischen Prophezeiungen haben als jemand, der an Vernunft und Empirie orientiert ist. Dies gilt fr die Figuren eines Dramas ebenso wie fr die Rezipienten.
Mantische Vorausdeutungen sind, dies liegt in der Natur solcher Ideologien begrndet, aber auch die dafr eingesetzten auersprachlichen Zeichen, "sind hufig ungenau, und wo sie konkreter scheinen, laden sie durch orakelhaften Doppelsinn zum Missverstndnis ein. Dieses halbe Vorwissen sorgt dafr, dass die Neugier auf die Zukunft nicht erlischt." (Asmuth 62004, S. 117) Und vor allem: Die Unbestimmtheit solcher Prophezeiungen macht sie in den Augen ihrer Anhnger*innen ja nicht weniger gewiss. Der ideologisch oder auch psychologisch motivierte Glaube daran, lsst sich jedenfalls davon nicht kirre machen.
Whrend herkmmliche mantische Vorausdeutungen, der Glaube an bersinnliches, Magie und irgendeine Art von Theodizee vor der Aufklrung allgemein verbreitet waren, hat sich dies mit dem Aufkommen der empirischen Naturwissenschaften und der allgemeinen Skularisierung des Denkens grundlegend gewandelt.
Die Leerstelle, die durch den Ausfall von Gttern und vorherbestimmten Schicksal entstand, hat die aufkommende Empfindsamkeit nach und nach "der Psyche der wirklich Betroffenen" (ebd., S. 118) besetzt und dabei die "eigentlichen Prophezeiungen [...] durch Trume, genauer gesagt, Traumberichte, verdrngt." (ebd.) Das ehemals ffentliche "Okkulte" (ebd.) wird damit zur Privatsache.
Grundstzlich stehen alle ideologischen Zukunftsgewissheiten, seien es Gewissheiten des sog. historischen Materialismus und seiner auf den Kommunismus teleologisch ausgerichtete Theorie gesellschaftlicher Entwicklung ebenso wie sozialdarwinistische rassistische Ideologien oder Verschwrungstheorien als strukturell hnliche, aber inhaltlich andere mantische Instanzen parat, um in der Moderne anstelle traditioneller mantischer Vorstellungen in die Bresche zu springen.
Handlungslogische Vorausdeutungen
Handlungslogische Vorausdeutungen sind yên tĩnh Gegensatz zu den mantischen prinzipiell zukunftsungewiss, weil sie lediglich auf Annahmen grnden knnen, die sich aus der Entwicklung und den urschlichen Bedingungen und Zusammenhngen der vorausgegangenen Handlung ergeben knnen. Es sind mehr oder weniger begrndete Vermutungen darber, was geschehen wird, ohne dass es dazu besonderer seherischer oder wahrsagerischer Fhigkeiten bedarf. Die Hypothesen, auf denen sie basieren, sind dabei mehr oder weniger einleuchtend und entfalten yên tĩnh Spiel wie auch bei der Rezeption des Publikums lediglich intersubjektive Plausibilitt.
Handlungslogische Vorausdeutungen in diesem Sinne sind daher "Absichtsbekundungen, also Plne, Wnsche, Schwre und dergleichen, aber auch Taten, die ihre Fortsetzung bereits in sich tragen, wie die Zeugung eines Kindes oder ein Verbrechen, das nach Entdeckung und Bestrafung schreit." (Asmuth 62004, S. 116)
Gert Egle. zuletzt bearbeitet am: 13.07.2020
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